SENA JURINAC (1921-2011) – Nachruf auf eine große Sängerin

Ich glaube nicht, daß Sena Jurinac während ihrer langen und erfolgreichen Karriere Karriere gänzlich der Rang jener grossen Sängerin zugestanden wurde, die sie tatsächlich war. Dafür gab es vielerlei Gründe: am Beginn ihrer Karriere waren Lemnitz und Maria Reining noch aktiv, später wurde sie von den Diven der Schallplattenproduktion, allen voran der enorm produktiven Madame Legge, überstrahlt. Ich glaube mich zu erinnern, daß dieses Thema in einem Interview von der Verstorbenen selbst angesprochen wurde. Wir vom Corriere haben Jurinac immer enorm geschätzt. Wir halten fast alle ihrer Aufnahmen – egal ob Verdi, Beethoven, Strauss, Puccini, Janacek, Tschaikovsky oder Wagner – für eine perfekte Symbiose zwischen Gesang und Interpretation.

An dieser Stelle wollen wir uns auch einige Besonderheiten in Jurinacs Karriere in Erinnerung rufen. Geboren 1921 in Travnik hat sie nach ihrem Studium in Wien während ihrer 40jährigen Karriere ALLES gesungen. Ohne Übertreibung. Ihre Karriere und ihre Kunst beweisen, daß – wie es bei allen großen Sängern war – es keine unterschiedlichen Gesangsschulen (deutsch, italienisch, etc) gibt, sondern maximal unterschiedliche Stile. Das Singen auf dem Atem, daß für die Tragfähigkeit der Stimme, Klangülle, Elastizität und Langlebigkeit sorgt, praktiziert(e) man in Wien genauso wie in Mailand. Die Karriere von Sena Jurinac beweist auch, daß man eine große Sängerin sein kann und gleichzeitig eine faszinierende Frau und eine prägnante Schauspielerin. Die Schönheit einer Opernsängerin ist ein erfreuliche Ergänzung, aber keine Notlösung, um Schächen und Unzulänglichkeiten zu übertünchen.
Keine ihrer Darstellungen bleibt bedeutungslos, in einigen Fällen werden sie zu Referenz-Interpretationen.
Sie war eine großartige, stimmlich volle, Mozart-Sängerin. Die Stimme war weich und biegsam mit einer guten Agilität. Die Rezitative gestaltete sie meisterhaft – zum Unterschied von vielen deutschen Sängerinnen – mit einer natürlichen und instinktiven Authorität. Darin hatte ihr erster Mann, Sesto Bruscantini, sie zur Meisterin gemacht.

Puccini lag ihr aufgrund ihres reizvollen Timbres, ihres strömenden Legatos und der vielfältigen dynamischen Schattierungen. Vor allem die Schwester Angelica und eine Vorzeige-Butterfly, wo sie zeigte, daß man die kleine Japanerin mit einer vollen, aber gleichzeitig weichen und biegsamen Stimme singen muß. Butterfly bedeutet, über weite Strecken in einer unangenehmen Stimmlage gegen das volle Orchester singen zu müssen. Dasselbe gilt für Suor Angelica, die nicht nur aus der Arie “Senza mamma” besteht, sondern auch aus dem anspruchsvollen “la grazia discende” im Finale der Oper.

Darin erklärt sich Puccini mit Strauss solidarisch. Zuerst singt sie Oktavian, später die Marschallin – beide Rollen sind zentrale Punkte in ihrer Karriere und in beiden Fällen unterstützt sie ihr blendendes Aussehen.
Ihre großartige Manon, die mit ihrer Eleganz als Sängerin und Interpretin ihren Partner, auch wenn dieser Anton Dermota heisst, völlig in den Schatten stellt, soll hier zu einem anderen Zeitpunkt besprochen werden.
Bald boten ihr die großen Dirigenten, wie Fritz Busch, schwerere Rollen an. Sie sang Ballo in Maschera, Forza del Destino, Leonore (Fidelio – nach Marzelline) – also Partien, die schon größere Stimmen als jene von Jurinac auf dem Gewissen hatten. Damals gab es diese Stimmen. Es gab aber auch die Tradition der lyrischen Stimmen, die sich im dramatischen Fach behaupteten. Unübertroffenes Beispiel ist Lotte Lehmann, aber auch Tiana Lemnitz und Maria Reining. Die Voraussetzung dafür, die Jurinac perfekt beherrschte, war,  in der Mittellage so wenig wie möglich zu forcieren und weitgehend auf dem Atem zu singen und die fehlende Dramatik in der Stimme mit einer stark akzentuierten Phrasierung zu kompensieren. Dadurch erzeugte sie den verhaltenen Schmerz und das verinnerlichte Leiden ihrer Charaktere anstatt auf oberflächliche Effekte abzuzielen.

Das Beispiel Jurinac ist deshalb so eindrucksvoll, weil sie diesen Weg nicht einfach nur eingeschlagen hat, sondern weil sie ihn über Jahre konsequent gegangen ist, ohne Kompromisse, ohne es sich leicht zu machen oder Verrat an der Musik und sich selbst zu üben. Im Gegensatz zu dem, was wir die vergangenen 40 Jahre über zu hören bekommen haben, liegen am Ende des Fidelio weder die Stimme der Jurinac noch die Musik Beethovens in Trümmern.
Als Liedsängerin zwingt sie selbst Lied-Muffel mit ihren “Vier letzten Liedern” von 1951 unter der Leitung von Fritz Busch in die Knie. Der Beweis, daß man diese Musik auch mit einer anderen Stimme als jener, mit der im Ohr sie komponiert worden war (in der Art von Kirsten Flagstad), singen kann und daß eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen einer großen Sängerin und einem großen Dirigenten auch (oder gerde) abseits jedes PR-Hypes zustande kommen kann. Eine ähnliche Paarung findet man sonst nur mehr bei eleanor Steber und Bruno Walter oder Dimitri Mitropoulos. Natürlich sprechen wir nicht bloß von großen Künstlern, sondern von Meistern ihres Könnens.

von Domenico Donzelli

Selma Kurz:

 “Die Sena”, wie sie in Wien liebevoll genannt wird, ist tot. Nach zwei Jahren an der Zagreber Oper wurde sie 1944 von Karl Böhm an die Wiener Staatsoper engagiert, wo sie in ihrem ersten Jahr 150 (!) Vorstellungen sang. „Singen Sie’s halt kroatisch“, hatte Karl Böhm der 23-Jährigen beim Vorsingen zugerufen, als sie ihm gestand, die gewünschte Partie nicht auf Deutsch zu beherrschen. – Man wollte diese Stimme auf jeden Fall für Wien gewinnen. Ihr Wien-Debüt gab Jurinac am1. Mai 1945 an der Volksoper als Cherubino in Mozarts “Hochzeit des Figaro”. Seither gehörte “die Jurinac” der Wiener Staatsoper an, deren Ehrenmitglied sie bis zuletzt war. Ihre Stärken waren ein leuchtend warmer und blühender lyrischer Sopran und glutvolles Temperament als Interpretin und Darstellerin. Jurinac war eine Vollblutsängerin, die, was ihre Rollenauswahl betraf, nicht zimperlich war und Begriffe wie „Schonung“ und „Vorsicht“ nicht zu kennen schien. Recht schnell stürzte sie sich heißhungrig auf Partien, die auf den ersten Blick jenseits ihrer stimmlichen Grenzen zu liegen schienen. Sie bewältigte sie alle – und wie! Mann müßte allerdings lügen, wollte man behaupten, daß die Stimme keinen Schaden genommen hat. Der zarte Schimmer, der feine Staub auf den Schmetterlingsflügeln, und die geschmeidige Biegsamkeit hatten unter den ersten unvorstellbar intensiven Jahren in Wien ein wenig gelitten. 1958 bildeten sich Knötchen auf den Stimmbändern, die sich nach einigen Monaten der Schonung wieder zurückbildeten. Jurinac hatte ihre Lektion gelernt. – So gut sie eben konnte… Mit zunehmend fortschreitender Karriere wurde die Stimme ein wenig härter und verlor durch die Überbeanspruchung in der Mittellage (wenn auch klug gemacht) ein wenig ihre Geschmeidigkeit und ihre leichte, leuchtende Höhe. Hört man ihre ersten Aufnahmen und hält man sich vor Augen, welche Partien sie mit dieser Stimme im Laufe der Jahre bewältigen würde, müßte man sich an den Kopf greifen. Dennoch war ihre lange Karriere kein reiner Triumph des Willlens über oder auf Kosten ihrer natürlichen Mittel.

 “Ich hatte irrsinnige Reserven”, bekannte sie in einem Interview. “Erleben und Ausdrücken war mir immer wichtiger als die Sorge um meine Stimme. Ab einem gewissen Punkt in meiner Karriere verlangte mein Temperament nach den dramatischen Rollen – und ich ließ ihm freien Lauf.” Der Ausspruch von Giulietta Simionato über Mafalda Favero könnte auch auf Jurinac passen: „Sie gab immer wahnsinnig viel von sich – mehr als gut für sie war. Aber das Ergebnis war immer unglaublich berührend.“
Ihr Publikum hat es ihr gedankt. Viele Sänger sind vielleicht mehr verehrt worden, wenige mehr geliebt als Sena Jurinac.

 

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